Der mittelamerikanische Exodus
Von Erika Harzer 2015 – Vorlage für Radiofeature für BR / DLF /WDR
Rede Barack Obama vom 9.7.2014
Wir stellen hier zwei Dinge fest: Erstens, die Zunahme von unbegleiteten Kindern und Eltern mit Kindern, die über die Grenze am Rio Grande kommen. Zweitens, dass diese Menschen sich nicht vor unseren Grenzschutzbeamten verstecken. Wir verhaften Sie in großer Anzahl.
O-Ton Samuel Heriberto – 17 Jahre - aus Sava/Colon/Honduras
Ich bin siebzehn und komme aus Sava in Colon. Dort ist alles schwierig. Wir sind gegangen, weil die Maras Druck gemacht haben. Wer nicht macht, was die wollen, wird massakriert. Wird abgeholt und getötet.
O-Ton – Padre Flor Maria Rigoni, Migrantenherberge Tapachula
Das ganze beruht auf einem von Bush unterzeichneten Gesetz von 2008 wonach Minderjährige - Sie nennen sie Kinder, aber in Mexiko oder Mittelamerika ist man Kind bis zehn, vielleicht zwölf. Ein Mädchen ist mit 14 Mutter oder eben Frau, der Junge ein Mann. Nach diesem Gesetz hat ein alleine in die USA kommender Minderjähriger Anspruch auf einen Prozess. Da es viele sind, kann das zwei, drei Jahre dauern. In dieser Zeit gehen sie zur Schule, sind untergebracht.
O-Ton – Rede Barack Obama vom 9.7.2014
Während wir uns um die richtigen Maßnahmen für diese Kinder bemühen, sollten deren Eltern in Zentralamerika alles dafür tun, zu verhindern, dass sich ihre Kinder in diese extrem gefährlichen Situationen begeben, zudem es unwahrscheinlich ist, dass die Kinder hier bleiben können.
O-Ton Samuel Heriberto – 17 Jahre - aus Sava/Colon/Honduras
Bei uns gegenüber wurden zwei umgebracht. Die waren mit mir in der Grundschule, einer 17, der andere 18. Die wollten sich nicht der Mara18 anschließen.
O-Ton – Rede Barack Obama vom 9.7.2014
Wir haben heute die höchste Anzahl Grenzbeamter im Einsatz. Und wir deportieren rund 400.000 Migranten jährlich!
O-Ton Samuel Heriberto – 17 Jahre - aus Sava/Colon/Honduras
SH: Ich will mich verbessern und meiner Familie helfen. Das ist meine Mission. Daheim geht’s uns finanziell schlecht. ?hast du mit ihnen vorher geredet? SH: ja, ja. ?was haben sie gesagt? SH: Sie waren besorgt, meinten aber: du bist ja schon fast groß und weißt was du tust. ?haben Mädchen nicht die Probleme mit den Maras? SH: doch, sie werden überfallen, ausgeraubt. ?hatte deine Schwester keine Probleme? SH: nur einmal wurde sie überfallen. Gut, was sollen wir tun?
Telesur TV am 13.11.2014 (aus: https://www.youtube.com/watch?v=92PlWuPpm0U)
In Mexiko präsentiert die UNHCR ihre Untersuchung „Entwurzelt“. Sie benennt Ursachen weshalb Kinder und Jugendliche ohne Begleitung aus Mittelamerika fliehen. Eine der Schlussfolgerungen darin ist, dass beinahe die Hälfte von ihnen internationalen Schutz nötig hat. 48.6 Prozent fliehen aufgrund von Gewalteinwirkungen, wie Schläge, Einschüchterungen, Bedrohungen und Unsicherheit. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen – 59,5 Prozent – kommen aus Honduras.
O-Ton Samuel Heriberto – 17 Jahre - aus Sava/Colon/Honduras
SH: Die beherrschen hier alles. ?Wer - die Polizei? SH: Nein, die Mareros beherrschen den Stadtteil. ?Gibt es keine Polizei? SH: Nein, die kommt hier nicht rein. Und wenn sie kommt, gibt es Schießereien mit den Mareros. Vor einem Jahr etwa wurden in einem Haus 10 Leute umgebracht. Durchsiebt von den Kugeln der Mareros. ?Warum? SH: Einfach so. Die kamen und töteten.
O-Ton Padre Fray Tomás – Albuergue La72 in Tenosique
Mexiko hat sich mit einer von Blut getränkten Migrationspolitik beschmutzt. Wir sind die Handlanger der USA und verraten dabei Mittelamerika. Anstatt einen nicht gewalttätigen und würdevollen Transit für die Migranten zu garantieren, wird ein gewalttätiger Umgang mit ihnen provoziert, in dem sie kriminalisiert und massiv im Transit behindert werden.
Musik: Endstation Irak – Rap von Antonio u.a.
beginnt bereits unter dem vorherigen O-Ton mit: wollte weg aus Guatemala, weg von den Straßen..... (bei 15.10) - wird hochgezogen, alleinstehend ab: Frag mich nach der Hölle und ich sag dir, das ich da war, irgendwo zwischen Guatemala und Tijuana …. (38.18) bis wird der Zug zu deinen Leben und dein Leben zu deinem Mörder (bei 49,0 0) läuft dann unter Titel langsam aus.
- Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
- Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.
Artikel 13 - Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948
--- - Kinderstimmen in Abschiebestation in Mexiko
Unbegleitete Minderjährige aus Mittelamerika in völlig überfüllten Abschiebezentren der USA. Kleine Kinder und Jugendliche liegen zu Hunderten eng nebeneinander in einem Raum. Maßlos überforderte Grenzbeamte, aufgebrachte US-Bürger. Und ein US-Präsident, der von einer „humanitäre Katastrophe“ spricht und im Sommer 2014 mehr Geld vom Kongress fordert. Die mittelamerikanischen Präsidenten fordert er auf, ihre Grenzen verschärfter zu kontrollieren, um diese Migrationswelle einzudämmen.
Diese Minderjährigen kommen aus Guatemala, El Salvador und Honduras, den Ländern des sogenannten mittelamerikanischen Dreiecks.
Was hier vor sich geht, ist eine hochaktuelle Geschichte aus dem 21. Jahrhundert mit uralten Rollenaufteilungen, in der diejenigen, die über Macht, Geld, Wissen verfügen, sich an denen bereichern, die nichts haben, am allerwenigsten irgendwelche Rechte. Ihre Heimatländer gelten nicht als Kriegsregionen und sind doch Länder, aus denen Kinder aus Angst um ihr Leben fliehen.
Es sind Länder, in denen sich Rechtsstaatlichkeit zugunsten von Korruption in der Auflösung befindet und die Sicherheitskräfte, die eigentlich den Schutz der Menschen gewähren sollten, Bestandteile der Gewaltstruktur sind. Zum Beispiel Honduras.
--- - kurze Atmo: Beginn der Pressekonferenz der Interamerikanischen Menschenrechtskommission – CIDH in Tegucigalpa am 5.12.2014
- Dezember 2014: Neues Stadtzentrum von Tegucigalpa, Hauptstadt von Honduras. Modernste Hochhausneubauten, Shopping Malls und internationale Fastfood-Ketten. Der Präsidentenpalast, daneben das Hotel Marriot. Gute 450 Kilometer entfernt vom honduranisch-guatemaltekischen Grenzübergang Agua Caliente. Gute 900 Kilometer entfernt vom guatemaltekisch-mexikanischen Grenzübergang El Ceibo, mehr als 2.600 Kilometer entfernt von der Grenze zwischen Matamoros, Mexiko nach Brownsville, Texas – die kürzeste Migrationsroute. Und knappe 5.500 Kilometer entfernt von Washington D.C.,(dem) Regierungssitz der Vereinigten Staaten und Sitz der Interamerikanischen Menschenrechtskommission – CIDH. Diese trägt heute im Nobelhotel Marriot ihre Einschätzung der Menschenrechtslage in Honduras vor.
O-Ton – CIDH PRESSEKONFERENZ – Tracy Robinson – über sie gesprochen die spanische Simultanübersetzung (das spanische übertönt das englische)
Die Gewaltsituation im Land ist alarmierend. Neben der weltweit höchsten Mordrate, gibt es in Honduras eine beträchtliche Anzahl Verschwundener. Auch die Anzahl sexualisierter Gewaltverbrechen sind beängstigend hoch. Dazu kommen gewalttätig ausgetragene Landkonflikte - um nur einige der Verbrechen aufzuzählen.
Tracy Robinson, Präsidentin der Interamerikanischen Menschenrechtskommission beschreibt ein Land, das politisch und sozial aus den Fugen geraten ist. Mehr als zwei Drittel der honduranischen Bevölkerung ist und bleibt arm. Zum Teil bitterarm, ernährt sich von Tortilla und Salz. Verhaftet im sozialen Abseits, ohne Zugang zu medizinischer Versorgung oder Bildung. Unabhängige Gerichte gibt es nicht, und wenn ein Richter oder Staatsanwalt doch einmal souverän agiert, wird er abgesetzt oder ermordet. Die sogenannten Sicherheitskräfte sind Teil der alltäglichen Gewalt und stützen das auf allen Ebenen korrupte System. Statt einer gerechteren Verteilungspolitik schickt die Regierung Militärs auf die Straße. Eine durch und durch beängstigende Entwicklung.
Die von Tracy Robinson vorgetragenen Fakten sind erschreckend und doch nicht neu. Schon seit Jahren ist Honduras das Land mit der weltweit höchsten Mordrate und das als vermeintlich nicht im Krieg befindliches Land. Vor allem junge Menschen haben im Land kaum Chancen, der Gewaltspirale zu entrinnen. Wer kann, verlässt das Land, ob mit oder ohne Schlepper. Trotz der enormen Strapazen und Risiken auf der Transitroute, fliehen sie. Getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Während Internationale Kommissionen anreisen, um auf die verheerende Menschenrechts-Lage in Honduras aufmerksam zu machen, versucht die US-Regierung mit verschärften Grenzkontrollen die Probleme in den Griff zu bekommen.
--- - Kurze Trennungsatmo - Straßenlärm
Nueva Esperanza – die neue Hoffnung. 10 Autominuten vom noblen Marriot entfernt. Ein Armenviertel. Nicht von der schlimmsten Sorte. Steil am Hügel gebaut. Schwer zugänglich. Warentransport nur mit Allradantrieb möglich. Ende 1998, während Hurrikan Mitch, weitgehend zerstört. Dutzende Häuser abgerutscht. Im Guacerique Fluss davongetrieben.
In Nueva Esperanza lebt die Familie von Ricardo. In einem Häuschen unten am Fluss. Sie betreiben eine Pulperia, einen kleines Lebensmittelgeschäft. Damit halten wir uns über Wasser, sagt die Mutter. Es reicht zum Überleben, sagt Ricardo. Die Ware dafür schleppen sie meist selbst auf dem holprigen Feldweg den Berg hinunter. Vor Monaten träumte Ricardo vom besseren Leben. Für sich und seine Eltern. Vater Jose erinnert sich:
O-Ton Jose Rubén Elvir – Papa von Ricardo Elvir
Ich hab es nicht mitbekommen, als er ging. War arbeiten an dem Wochenende. Er ging heimlich. Als ich Montag von der Arbeit kam, saß sie hier heulend mit einer Nachbarin: Ricardo ist weg! Keine Ahnung, wo er steckt. Ich wurde nervös wegen meinem Jungen, rief ihn an. Er hatte ja ein Handy. Er nahm ab und sagte: ich bin in Agua Caliente, an der Grenze. Bist du wahnsinnig? sage ich zu ihm. Warum bist du gegangen? Warum hast du nicht mit mir darüber geredet? Er ist einfach gegangen dieser Kerl. Ich war auf Arbeit und er haute ab.
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre
Ich hab ihnen nicht erzählt, dass ich gehe. Ich wusste, sie würden mich festhalten und nicht gehen lassen, wenn ich etwas sage.
Im Juni 2014 macht sich Ricardo alleine auf einen Weg, von dem er keine Ahnung hat, wie er ihn wird meistern können.
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre
Um Mitternacht bin ich los, erst zu Fuß, recht abenteuerlich. Am nächsten Morgen um neun lag Honduras hinter mir. Da war ich schon in Guatemala.
O-Ton Jose Rubén Elvir – Papa von Ricardo Elvir
Am zwölften hatte er Geburtstag. Da ging er los!
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre
Mit 35 Lempiras in der Tasche bin ich los. Und meinem Handy. Das war alles. Ja und die Klamotten, die ich anhatte und die Zahnbürste. Ich war 15 als ich losging, und als ich über die Grenze ging, war ich 16. Für eine bessere Zukunft, sagte ich mir. Ich wollte eine bessere Zukunft für meine Eltern. Es ging schief. Was können wir schon machen?
Per Anhalter durchquert Ricardo recht schnell Guatemala. Alles läuft gut für ihn. Er bekommt Essen geschenkt, manchmal auch etwas Geld. So kommt er voran. Auf einem Schnellboot setzt er gemeinsam mit weiteren 70 Migranten über den Grenzfluss Usumacinta, erreicht sicher Palenque in Mexico.
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre
Von Palenque bin ich 110 km nach Tenosique in Tabasco gelaufen. Da sah ich erstmals den Zug und bekam Angst. Da ging ich in die Herberge, in die LA72. Wollte dort ausruhen.
--- - Stimmen von Migrant*innen im Casa Migrante La72 in Tenosique
Tenosique, südöstlicher Zipfel mexikanischer Bundesstaat Tabasco. Typische Kleinstadt. Keine Besonderheiten. Erste Anlaufstelle für überwiegend honduranische Migranten. Sie queren Guatemala über die Nordroute durchs Department Petén. Kaum besiedelt, großflächig Regenwald, archäologische Kultstätten, Kernlandgebiet der Mayas. Reiseziel internationaler Touristen, Durchgangsroute für Drogen- und Waffenhändler und für Migranten
Bis Tenosique hat Ricardo Elvir aus Nueva Esperanza schon mehr als Tausend Kilometer bewältigt. In überfüllten Bussen, per Anhalter auf Ladepritschen von Transportfahrzeugen, in kilometerlangen Fußmärschen.
O-Ton Fray Tomás, Leiter der Migrantenherberge La72 in Tenosique
Seit Jahren kommen hier Minderjährige an, zu Hunderten. Sie sind zwischen 11, manchmal auch 10 bis 17 Jahren.
In bodenlanger brauner Kutte, lässig das Seil um den Bauch gewickelt, an den Füssen Sandalen, so bewegt sich Fray Tomás durch die Herberge La72 von Tenosique. Er ist Franziskanermönch und leitet dieses Haus, dem er den Namen „die 72“ gegeben hat.
Sommer 2010. Tamaulipas, Nordmexiko. Unweit Grenzfluss Rio Bravo. Ein mehrstündiger Schusswechsel zwischen mexikanischem Militär und Drogenkartell ZETAS. Das Militär erlangt Zutritt zu abgelegener Farm. Fund von 72 Leichen - Migranten aus Mittel- und Südamerika
Die Migranten konnten oder wollten den von den ZETAS verlangten Wegezoll nicht bezahlen. Bei so etwas fackeln die ZETAS nicht lang.
O-Ton Fray Tomás, Leiter der Migrantenherberge La72 in Tenosique
Das Wirtschaftssystem lässt die Menschen verzweifeln. Vor allem die Ärmsten. Erst migriert der Mann, dann die Frau, ältere Menschen, Minderjährige usw. Es sind mörderische Verhältnisse, die diese Migration erzwingen.
Anfangs suchten hier fast nur Männer Unterkunft. Dann kamen die Frauen. Sie haben andere Hygiene-Bedürfnisse. Für sie bauten wir den Frauenschlafsaal. Danach eine kleine Klinik zur medizinischen Versorgung der Migranten und dann einen vernünftigen Platz zum Essen, mit Tischen und Stühlen. Wir passen uns mit den Anbauten den Bedürfnissen der Migranten an.
Ein kleiner Feldweg, Stadtrand Tenosique. in Fuß Nähe zu Bahnhof und Gleisen. Standort Casa Migrante La 72
Die 72 ist ein offenes Haus. Anders als in den meisten Herbergen auf der Strecke, können die Migranten hier bleiben, solange sie wollen. Sie können auftanken und sich auf die Weiterreise vorbereiten. Auf das schwierigste Stück.
Entfernung Tenosique Mexiko City: rund Eintausend Kilometer. Dort Routentrennung. Weststrecke Richtung Tijuana Grenze Kalifornien rund 2.800 Kilometer. Massive Grenzbefestigung. Zäune, Bewegungsmesser. Arizonaroute, weniger Grenzbefestigung, dafür Wüste als „Todesstreifen“, rund 2.200 Kilometer von Mexico City. Oststrecke über Reynosa oder Matamoros, mit Querung des Grenzflusses Rio Bravo, rund 1.050 km entfernt.
--- - Stimmen von Migrant*innen im Casa Migrante La72 in Tenosique
Jahre lang waren die Waggons der Güterzüge, die Mexiko durchqueren, das bevorzugte Transportmittel für die Migranten ohne Geld. Um auf ihnen mitzufahren, musste man fit sein, den Rhythmus beherrschen. Man durfte nicht schlafen und musste der Migra – den Migrationsbeamten oder den bewaffneten Wegelagerern rechtzeitig entwischen. Wer diese Kriterien nicht erfüllte, wurde von La Bestia, so nennen die Migranten den Zug, „verschlungen“. Für alle anderen war „das Untier“ die sicherste und günstigste Lösung. Doch im zweiten Halbjahr 2014 verhindern Polizei und Militär mehr und mehr den Zugang auf die Züge.
--- - Stimmen von Migrant*innen im Casa Migrante La72 in Tenosique
In der Herberge ist die „Bestia“ Thema, überhaupt die Frage: wie Weiterkommen. Beim Frühstück. Beim Abendessen. Da sitzen Frauen mit ihren kleinen Kindern am Esstisch. Familien mit Kindern. Alleinreisende Frauen. Einsame junge Männer, die alleine unterwegs sind oder sich in kleinen Gruppen zusammengefunden haben. So wie Ricardo aus Tegucigalpa es im Juni 2014 gemacht hat oder in dieser Novemberwoche die beiden 17jährigen Samuel und Kevin aus Sava im Norden Honduras. Oder der 15jährige Franklin
O-Ton Franklin Josue – 15Jähriger aus San Pedro Sula, Honduras
Ich komme aus Honduras, aus San Pedro Sula, bin 15. Von zu Hause bin ich alleine los. Vor der Grenze traf ich zwei Kumpels, einer war 15, der andere 17. Mit denen kam ich hier an. Sie wurden beide später hier verhaftet.
Der schlaksige, hochgewachsene Franklin Josue könnte mit seinem Jungengesicht auch locker als 13Jähriger durchgehen. Er fühlt sich in der Herberge aufgehoben und bringt sich ein, wo immer er kann. Doch seine Geschichte zu erzählen kostet ihn Überwindung. Immer wieder verdrückt er sich, macht sich unsichtbar, bis er wohl irgendwann für sich beschließt, dass er jetzt so weit ist. Und loslegt
O-Ton Franklin Josue – 15Jähriger aus San Pedro Sula, Honduras
FJ: Sie schmissen uns aus dem Haus! ? Wer, die Polizei? FJ: Nein, die Mareros. Maras. ? Was ist passiert? FJ: Sie gaben uns einen Tag zum gehen, sonst würden sie dafür sorgen, dass wir verschwinden. ? Warum? FJ: weiß nicht
? Was machten deine Eltern? FJ: sie gingen weg und ich haute ab. ? hast du Geschwister? FJ: nen kleinen Bruder. ? er blieb bei den Eltern? FJ: ja
Maras sind kriminelle Jugendbanden. Straff organisiert mit mafiaähnlichen Strukturen. Entstanden in den Neunziger Jahren in den USA. Aktiv in El Salvador, Guatemala, Honduras. Die bekanntesten sind Mara Salvatrucha und die Mara18. Untereinander verfeindet. Bekriegen sich gegenseitig. Aktiv im Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Kontrollieren ganze Stadtteile und Landstriche im mittelamerikanischen Dreieck.
Auf dem asphaltierten Basketballplatz spielt ein kleiner Junge barfuß mit einem leicht ausgebeulten Ball, der größer wirkt als er selbst. Vor dem Frauenschlafsaal, zu dem Männer keinen Zutritt haben, unterhalten sich ein paar Frauen. Ein Garifunajunge schiebt sein Plastikauto immer und immer wieder vor dem Gesundheitsposten hin und her. Er ist mit seiner Familie hier, vertrieben aus einem kleinen Dorf an der Karibikküste Honduras. Das alles wirkt alles familiär. Wie in einer Großfamilie. Und Franklin gehört dazu. Doch er erzählt nur abseits, will nicht, dass andere ihm zuhören könnten. Die Angst vor der Bande sitzt tief.
O-Ton Franklin Josue – 15Jähriger aus San Pedro Sula, Honduras
FJ: Ich bin alleine los. Hab mir gesagt: pack deine Sachen! So kam ich hier her. ?Das hast du alleine entschieden? FJ: ja. Ja ?mit niemanden gesprochen?
FJ: nein mit niemanden. ?warum? FJ: nein, nein, hatte dafür keine Zeit. ?wegen der Angst? FJ: mh, ja. ?Angst, dass sie wieder kommen? FJ: ja. ?Wer waren sie? FJ: die 18!
Was geht einem 15jährigen Jungen durch den Kopf, in so einem Moment? Die letzte Nacht zu Hause, die letzten Stunden im vertrauten Umfeld, bevor er sich ganz allein aus dem Haus schleicht? (direkte Frage an FJ) Was hast du gedacht? Hast du noch einmal dort geschlafen und dann …
O-Ton Franklin Josue – 15Jähriger aus San Pedro Sula, Honduras
Nein, das ging nicht. Sie kamen ja abends. Da war die Oma und die Mama da. Denen sagten sie, wir hätten Zeit bis zum Morgen, um zu verschwinden. Ich war bei meinen Vettern. Wir spielten. Mutter und Oma kamen und erzählten heulend, dass wir weg müssen. Mama sagte mir dann, warum. Oma und Tante begannen nach einer Unterkunft zu suchen . … Ich wartete. Dann ging ich los, ohne dass sie es merkten.
Es klingt beinahe normal, beinahe logisch, dass er diese Entscheidung trifft für sich in diesem Moment. Wie sie hunderte oder tausende andere Jugendliche ähnlich treffen, um diesem Kreislauf zu entfliehen. Fünfzehnjährige Kinder, deren Rechte geschützt werden müssten! Die hilflos einer unmenschlichen Gewalt ausgesetzt sind. Die für die Eltern und sich selbst ein besseres Leben suchen.
O-Ton Franklin Josue – 15Jähriger aus San Pedro Sula, Honduras
FJ: Im Bett habe ich die ganze Nacht nachgedacht. Was tun? Soll ich bleiben? Soll ich das Land verlassen? Ich gehe! Das ist sicherer! War dann irgendwann meine Antwort. Noch in der Nacht hab ich alles vorbereitet. Frühmorgens war ich weg. Ohne mich zu verabschieden, nicht mal von Mama. Ich nahm meine Sachen und ging los. ?wie bist du los? FJ: hm, (lautes schnaufen) mit Angst. Mit sehr viel Angst. Die Haltestelle für Busse oder Taxis ist nicht weit, Trotzdem hatte ich Angst. Dort sind schon viele geschnappt worden. Es war 6 Uhr morgens. Mit einem Bus bin ich ins Zentrum von San Pedro Sula gefahren, von dort dann die 180 km nach Copan Ruinas. Dort musste ich mich an der Polizei vorbei schleichen, danach durch einen Fluss
Am liebsten würde Franklin Josue nach Monterrey in den Norden Mexikos weiter reisen, ganz legal, einen Aufenthaltsstatus in der Tasche. Dort würde er Arbeit suchen und wenn er erst mal etwas verdient hätte, Architektur studieren.
Pläne faszinieren ihn. Auf dem Fußboden der Kapelle von La72 sitzend, ausgestattet mit Lineal und Bleistift, zeichnet er im November 2014 auf ausgelegte Stoffbahnen akkurat Umrisse von Buchstaben. Bienvenidas las Madres – Willkommen die Mütter.
- November 2014. Tenosique. 43 Menschen, überwiegend Mütter, starten eine Rundreise durch Mexiko. Eine Karawane auf der Suche nach verschwundenen Angehörigen. Neben den Müttern: ein paar wenige Väter, Ehefrauen und Schwestern aus Mittelamerika. Sie kommen aus Nicaragua, El Salvador, aus Guatemala. 2014 ist es die 10. Rundreise.
--- - Busmotorengeräusch. Die Mütter sind da. Applaus zur Begrüßung
Ihre vermissten Angehörigen gelten als „Verschwundene. Als Migrant*innen waren sie allesamt in Mexiko unterwegs. Irgendwann brach der Kontakt ab, verloren sich die Spuren. Bei manchen schon seit mehr als 15 Jahren.
Zu Migrant*innen, die auf ihrer Suche nach einem vermeintlich besseren, sichereren Leben, verschwunden sind, gibt es weltweit keine festen Zahlen, nur Schätzungen. Ihre Angehörigen vermissen sie und sind mit ihrer Trauer zuhause meist allein, egal ob in Afghanistan, in Eritrea, Mali, Syrien, dem Kongo, ob in El Salvador, in Guatemala oder Honduras. Durch die vorhandene Abschottungspolitik gegenüber Migrations- und Flüchtlingsströmen der reichen Zielländer, egal ob sie in Europa liegen, ob es die USA oder Kanada, Neuseeland oder Australien sind, wird das Verschwinden der Menschen in Kauf genommen.
Lebend habt ihr sie genommen – lebend wollen wir sie wieder. Wieder und wieder rufen sie diese Parolen. Die Fotos ihrer Liebsten umgehängt oder auf öffentlichen Plätzen ausgelegt, so hoffen sie auf Hinweise, auf Zufälle. Vielleicht ist der Sohn doch nur auf einen Bauernhof verschleppt worden, kommt dort nicht mehr weg, hat alle Kontaktzettel verloren oder er wurde irgendwann verhaftet, sitzt eine Strafe ab. Als andere Person, mit falschem Namen. Bei Grenzübertritt legen die meisten ihre Identität ab. Vielleicht findet sich die Tochter in einem der Bordelle wieder, von Menschenhändlern verschleppt, gebrochen – aber noch am Leben.
Eine Karawane von Fotos, Abbilder von Menschen, deren Spuren irgendwann unsichtbar wurden, sich auflösten. Ohne Abschied nehmen zu können, ohne Hinweise auf letzte Orte. Das Schicksal Tausender von Menschen im 21. Jahrhundert. Namenlose. Menschen ohne Papiere. Unterwegs auf Routen, auf denen der Begriff Menschenwürde schon längst zu einem unaussprechlichen Fremdwort wurde, längst jeglicher schützender Bedeutung enthoben.
Menschen, deren Körper einfach verschwanden. Irgendwann. Irgendwo. Auf der Route übers Mittelmeer, von dem wir nicht wissen, wie viele junge Menschen aus afrikanischen Ländern dort in den letzten Jahren versunken sind. Oder in irgendwelchen anonymen Gräbern Mexikos verscharrt, von denen gerade in den Tagen vor Beginn der Karawane aufgrund der Suche nach den 43 verschwundenen Studenten mehr und mehr bekannt wurden.
In ihren Heimatländern überleben sie nicht. Die reichen Länder wollen sie nicht und setzen horrende Summen dafür ein, die Grenzen gegen sie abzusichern. Die Wege bergen tödliche Hindernisse, bergen Entführung, Erpressung, Ermordung. Und schaffen sie es doch anzukommen, werden sie zu schattenhaften Wesen, ohne Namen, ohne Identität, als Illegale denunziert. Sie werden festgenommen, abgeschoben. Dorthin zurück, wo sie nicht überleben werden. Tagtäglich spielen sich solche Szenen ab. 66 Jahre nach Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.
Nino Quaresima ist Gast der Karawane. Herkunftsland Italien. Er vertritt die italienische Bewegung zur Unterstützung von Migranten. Zeitgleich mit Karawane in Mexiko beginnt in Lampedusa eine Italien Rundreise nach Turin. Er kritisiert die Abschottungspolitik der EU, fordert Einhaltung Menschenrechte für Migranten.
O-Ton Nino Quaresima
Wir haben auch in Europa und vor allem in Italien das Problem der Migration. Migranten aus dem Mittleren Osten und Afrika durchqueren Italien Richtung Norden, wo es Arbeit gibt. Es sind Kriegsflüchtlinge, wie die aus Syrien, aus Libyen oder Äthiopien. Oder Armutsflüchtlinge. Sie kommen über's Mittelmeer. Mindestens 25.000 Tote liegen laut offiziellen Zahlen in den Tiefen des Meeres. Alles Menschen, die hofften, es nach Europa zu schaffen.
Nino Quaresima wirkt schüchtern, zurückhaltend, manchmal beinahe überfordert von all dem, was er hört. Immer wieder beschreibt er Parallelen zwischen der Abschottungspolitik in Europa und der USA.
O-Ton Nino Quaresima
Die Ursachen sind dieselben. Wir reden von den ausgebeuteten Ländern, von Menschen, ohne Rechte, die ein besseres Leben suchen und auf geschlossene und militarisierte Grenzen stoßen.
Die Entscheidung, parallel Rundreisen durch Mexiko und Italien durchzuführen, zeigt in beiden Regionen die Dimension der Migration als globales Problem einer fatalen neoliberalen Wirtschaftspolitik, die Millionen von Menschen weltweit aus dem sozialen Leben ausschließt. Menschen, die im vorhandenen Verwertungssystem überflüssig sind und von daher als rechtlose Verschiebemasse unterwegs sind.
O-Ton Nino Cuaresima -Italien
Artikel 13 der allgemeinen Menschenrechtserklärung besagt, jeder Mensch habe das Recht auf Bewegungsfreiheit. Würde dies auch gegenüber Migranten respektiert werden, könnten die Migrationsströme nicht weiter kriminalisiert werden. Dann müssten sie sich nicht mehr für 4 oder 5000 Euro in die Hände von Schleppern begeben, wären nicht mehr schutzlos gegenüber jeder Form der Ausbeutung bevor sie Europa erreichen. Auch in Europa wären sie nicht weiter schutzlos, wo sie jetzt von der Mafia missbraucht werden oder eben nach Hause abgeschoben werden.
Früher Abend. Am Zentralplatz von Tenosique. Passanten bleiben stehen, schauen sich die Fotos der Vermissten an. Darunter Migranten, die eben erst in Tenosique angekommen sind, die noch dabei sind, sich in Mexiko zu orientieren. Die sich unauffällig bewegen wollen und doch sofort auffallen. Unermüdlich fragen die Mütter die Vorbeikommenden. Zeigen auf ihren Sohn, ihre Tochter.
Auf dem Platz sucht eine Mariachigruppe zahlende Kunden. Irgendjemand engagiert sie für die Mütter. Ein spontanes, spezielles Ständchen, ein bewegender Moment:
--- - Mariachimusik und mitsingende Mütter: ay ay ay ay – canta y no llore
21.November 2014. Die Karawane verlässt Tenosique. Militär- oder Polizeifahrzeuge fahren vorweg. 10 mexikanische Bundesstaaten, 24 Städte in 17 Tagen. Annähernd 4.000 Kilometer. Zu den Organisatoren der Karawane gehören: Padre Fray Tomás, Leiter Herberge La 72, Marta Sanchez aus Mexiko City.
O-Ton Marta Sanchez – Movimiento Migrante Mesoamericano
Unsere Forderungen sind naheliegend. Würden die Menschenrechte der Migranten respektiert, würden in Mexiko nicht mehr so viele Migranten sterben.
Mit ihren Mitstreitern organisiert Marta Sanchez Gesprächsrunden, führt Interviews, stellt politische Forderungen an Regierungs- und Migrationsbehörden. Als „Mutter der Mütter“ tröstet sie, wo Tränen fließen, gibt Rat, wo er gebraucht wird und umarmt, wo die Verzweiflung zu groß wird.
O-Ton Marta Sanchez – Movimiento Migrante Mesoamericano
Wir sind keine Organisation, die humanitäre Hilfe leistet. Wir wollen die Ursachen der Probleme bekämpfen, stellen politische Forderungen. Und wir benennen immer wieder die Gründe, warum diese Menschen abhauen und was ihnen auf dem Weg passiert. Das hat auch die Mütter verändert. Bei unserer ersten gemeinsamen Karawane haben sie, wenn überhaupt, ausschließlich über ihre persönliche Tragödie, ihren Schmerz geredet. Sie weinten ununterbrochen. Aus diesen vom Schmerz gezeichneten Müttern sind Kämpferinnen und Menschenrechtsverteidigerinnen geworden. Das erfüllt mich mit großer Zufriedenheit.
Die Legalisierung ihres Status als Durchreisende sei für die Migranten überlebensnotwendig, betont Marta in jedem Interview. Nur so könnten sie davor geschützt werden, dass sie ausgeraubt, misshandelt, vergewaltigt und im schlimmsten Falle umgebracht würden.
Eine utopische Forderung, die allein schon an der Migrationspolitik der USA scheitern würde. Doch auch in Mexiko gäbe es viele Widerstände dagegen.
O-Ton Marta Sanchez – Movimiento Migrante Mesoamericano
Lange Zeit wollten wir diese Netze der Organisierten Kriminalität entlarven, die die Migrationsrouten beherrschen. Heute reden wir nicht mehr von Organisierter sondern von autorisierter Kriminalität. Die Verstrickung der Autoritäten in dieses Geschäft ist so offensichtlich. Dazu haben wir jede Menge Zeugenaussagen. Es sind Mitarbeiter unterschiedlichster Regierungsebenen, die für Geld Migranten passieren lassen.
Erzählerin
Für Marta eine eigentlich unfassbare Situation, denn ….
O-Ton Marta Sanchez – Movimiento Migrante Mesoamericano
Wie kann man Geld aus jemand saugen, der es nicht hat? Aber die schaffen das. Die Migranten verschulden sich total, nehmen auf alles, was sie haben, Hypotheken auf – verkaufen alles, um das geforderte Geld aufzubringen.
Worüber Marta sich empört, ist für einen jungen Mann aus Honduras Teil des Geschäfts. Er, wir nennen ihn Carlos, ist Coyote, ist einer derjenigen, die an diesem trafico de personas, dem Schleusen der Menschen aus Mittelamerika in die USA, gut verdienen.
Coyote steht für Schlepper, Schleuser, Fluchthelfer. Ein in weiten Teilen der Welt florierendes Geschäft.
O-Ton Carlos - NN - honduranischer Coyote
Dieses Geschäft ist heutzutage lukrativer als der Drogenschmuggel. Willst du in die USA, dann zahlst du dafür zwischen 5 bis 8.000 Dollar pro Person. Wer ist alles in diesen Menschenschmuggel involviert? Du durchquerst Honduras, dann Guatemala, dann Mexiko und kommst in den USA an – überall sind die Beamten in all das involviert.
Anfang Dezember 2014. San Pedro Sula, im Norden von Honduras. Die Industriemetropole des Landes, Standort unzähliger Maquila-Produktionshallen, den Billig-Lohnfabriken internationaler Konsortien und umgeben von schnell anwachsenden Armenvierteln, in denen die Maras herrschen.
Langsam fährt Carlos durch eines dieser Viertel. Immer wieder der hektische Blick in die Rückspiegel. Er ist unruhig, wirkt gejagt. Ständig geht sein Mobiltelefon. Eine SMS nach der anderen, dann ein Anruf. Ein besorgter Vater, der anfragt, ob, wenn ja, wann und für welchen Preis Carlos seine beiden Kinder in die USA bringen könnte. Carlos ist selbst vor Jahrzehnten alleine in die USA migriert.
O-Ton Carlos - NN - honduranischer Coyote
Ich kam damals nach Houston und traf dort auf Menschen, die alle in diesem Geschäft steckten. Ich war 14 Jahre alt, ein Kind, unschuldig und bereit, alles zu tun, wofür ich aufgrund des Alters nicht belangt werden konnte. So begann ich, Leute über den Rio Bravo in die USA zu schleusen. Finanziell war das großartig! 10.000 Dollar in einer Woche für einen 15 oder 16 Jährigen, vermittelt dir den Eindruck, die Welt liegt dir zu Füssen.
Carlos ist bei diesem „Geschäft“ geblieben. Heute sind es vorwiegend Jugendliche, die er von Honduras in die USA bringt.
O-Ton Carlos NN - honduranischer Coyote
Warum? Wegen der Armut in unserem Land! Wegen der extrem hohen Kriminalität in unseren Ländern!
Rede Präsident Obama v 9.7.2014
… And we’re also addressing the root of the problem. I sent Vice President Biden and Secretary Kerry and Secretary Johnson to meet with Central American leaders, as well as working with our international partners to go after smugglers who are putting their kids’ lives at risk.
Anfang Juli 2014. Die angewachsene Zahl unbegleiteter Kindermigranten beherrscht die Medien. Präsident Obama schickt Vizepräsident Biden und Außenminister Kerry zu Gesprächen mit den mittelamerikanischen Präsidenten, um gegen die Schlepper vorzugehen, die das Leben der Kinder gefährden würden.
O-Ton Julia de Torres, stellvertretenden US-Botschafterin in Tegucigalpa (Telefoninterview)
Die Schlepper warben sehr gut und überzeugend. So boten sie den Familien Rabatt an, wenn sie zwei oder drei Kinder schickten. Sie boten Ratenzahlungen an und garantierten für die ausgehandelte Fixsumme mindestens drei Versuche. Sehr gute Angebote.
Julia de Torres ist stellvertretende US-Botschafterin in Tegucigalpa, Honduras. Die US-Botschaft verzeichnet in ihren jüngsten Untersuchungen für 2014 weder einen Anstieg der Gewalt noch der vorhandenen Armut. Für Julia de Torres ist es also naheliegend, die Schlepper mit ihrer forcierten Werbe-Offensive für die angestiegene Migrationszahlen verantwortlich zu machen. Auch Padre Flor Maria Rigoni, seit 1998 Leiter einer Migrantenherberge in Tapachula im Süden Mexicos, unweit der guatemaltekischen Grenze, nennt ähnliche Gründe:
O-TON – Padre Flor Maria Rigoni – Migrantenherberge Tapachula
Die ersten drei Monate von 2014 gab es einen 130 Prozentigen Anstieg. Das übertraf alle bisherigen Rekorde. Was war da los? Es war eine Geschichte der sehr clever agierenden zentralamerikanischen organisierten Kriminalität. Als überall die Filme gezeigt wurden mit den dort aufgegriffenen Kindern, war das der Boom.
Ein kurzzeitiger Boom, wie Padre Flor Maria weiter ausführt
O-TON – Padre Flor Maria Rigoni – Migrantenherberge Tapachula
Sie wurden von Erwachsenen begleitet, die die Kinder in der Nähe der Grenze alleine absetzten. Irgendwann waren es 52.000 Kinder. Aber die kamen nicht unbegleitet. Deren Verwandtschaft war dort. Wenn nicht die Väter, dann waren es Onkel oder Vetter. Etliche Väter waren in den USA. Sie wollten, dass ihre Kinder legal nachkommen sollten. Die Medien der USA spielten ihre eigene Rolle, schufen eine politische Stimmung gegen Obama. Als Obama die ersten Kinder zurückschickte und kundtat, dass sie nicht in USA bleiben könnten, ging die Bewegung über Nacht zurück und reduzierte sich auf die gewohnten Zahlen.
O-Ton Julia de Torres, stellvertretenden US-Botschafterin in Tegucigalpa (Telefoninterview)
Die Schlepper arbeiteten auch mit Fehlinformationen zur Migrationspolitik der USA. Erzählten, das Kinder, die alleine ankommen würden, in den USA bleiben könnten. In den USA dürfen Kinder nicht lange in staatlichen Einrichtungen sein. Sie müssen in Familien untergebracht werden. Und auch wenn eine richterliche Prüfung stattfindet, in der zwischen Aufenthaltsgenehmigung oder Rückführung entschieden wird, werden sie zwischenzeitlich in US Familien untergebracht.
O-Ton Carlos - NN - honduranischer Coyote
Für die US-Regierung sind wir wichtig. Sie setzen alles daran, uns zu kriegen. Wir sind ihre Schuldigen am Problem, das sie heute mit der Migration haben. Willst du wirklich das Schleusen in Mittel- und Südamerika stoppen? - Dann kontrolliere den Hunger, kontrolliere ernsthaft die extreme Kriminalität – dann kannst du das Schleusen von Menschen ohne Dokumente gen Norden stoppen. So sehe ich das.
Sicherlich riskieren viele Schlepper, das Leben der ihnen für viel Geld anvertrauten Menschen. Skrupellose Geschäftsleute, die an ihrer Ware nur das Transportgeld interessiert.
Aber Schlepper als Ursache des Problems zu benennen, was in so manchen Statements europäischer Politiker ebenso der Fall ist, wie bei Präsidente Obama und der stellvertretenden Botschafterin in Honduras, lenkt ab vom Kern des Problems und entlässt die, die eigentlich Handeln müssten, aus ihrer Verantwortung. Die Schlepper finden deshalb Kunden, weil Hunderttausende von Menschen in ihren Heimatländern nicht überleben würden. Sie fliehen aus Kriegs- und Krisenregionen und vor einer Armut, die die weltweite von extremer Gewinnmaximierung gesteuerte Wirtschaftspolitik produziert. So sieht sich Carlos weiterhin als einer von vielen innerhalb eines sehr lukrativen Geschäfts.
O-Ton Carlos - NN - honduranischer Coyote
Du kennst die Motive, warum so viele Minderjährige heute aus unseren Ländern abhauen?
Der hohe Grad an Kriminalität. Die Leichtigkeit, mit der du an Drogen kommst, mit der du Waffen erhältst. Du wirst schnell zum Gefangenen von Drogenschmugglern oder Banden.
Alles Auswirkungen einer gesellschaftlichen Auflösung. Viele dieser Kinder und Jugendlichen leben bei Großeltern oder Onkel und Tante. Die Eltern sind schon vor Jahren in die USA migriert, schicken von dort regelmäßig die Remesas, die Geldsendungen. Zerrissene Familien, zerrissene soziale Bande.
O-Ton Marta Sanchez – Movimiento Migrante Mesoamericano
Wir sehen heute nicht mehr nur das Phänomen der angestiegenen Migration. Es gibt ein weiteres, auch wenn das keiner als solches benennen mag, weil es nicht ins Schema passt. Es geht um die gewaltsame Vertreibung. Und all das, was über zur Tragödie der Kindermigranten geschrieben wurde, sollte nur davon ablenken, dass mittlerweile ganze Bevölkerungsgruppen migrieren. Vertrieben von ihren Herkunftsorten, ihrem Umfeld, ihren Ländereien, ihren Häusern. Sie haben keine andere Wahl als zu gehen.
So auch die indigene Bevölkerung im ländlichen Honduras, der im Laufe der vergangenen Jahre mehr und mehr Gemeindeland für Großprojekte – sei es für Monokulturen, für Tourismus Anlagen oder sonstiges – abgenommen wurde. Betroffen davon sind auch die Garifunadörfer an der Karibikküste.
Garifunas begannen vor mehr als 200 Jahren die Karibikküste von Belize bis hinab nach Nicaragua zu besiedeln. Sie lebten vom Fischfang und Produkten der Kokospalme und der Yuccapflanze.
Tornabé, Karibikküste, kurz vor der Stadt Tela, des ehemaligen Zentrums der Tela Railroad und der United Fruit Company. Bananenplantagen, Sandstrand, Palmen, Fischerboote. Heute mehr und mehr Palma Africana Plantagen. Distanz Tegucigalpa 304 Kilometer. Ein Garifunadorf mit rund 1.500 Einwohnern.
Ein Dorf, in dem es längst keine Arbeit mehr für die Heranwachsenden gibt, in dem Gemeindeland für Tourismusprojekte enteignet wurde, in dem die Menschen von den Geldsendungen aus den USA leben. Und immer mehr Menschen abhauen. Viele von ihnen ohne Schleuser. So wie die beiden Söhne von Carlixta, einer engagierten Frauenrechtlerin der Gemeinde.
O-Ton Carlixta – Tornabé
Sie haben ausgenutzt, als ich länger im Büro geblieben bin. Ich koordiniere das Frauenprojekt „Mariposas libres“. Als ich nach Hause kam, waren sie weg. Zum ersten Mal erlitt ich Depressionen.
Mein Sohn war zwei Tage lang entführt und bis heute weiß niemand, wo er war. Der andere wird deportiert und kommt bald zurück nach Honduras.
Lehrerinnen der Dorfschulen erzählen davon, wie im Laufe des Schuljahres immer mehr Kinder aus den Klassen verschwinden. Früher gingen die Eltern alleine und die Kinder blieben bei den Verwandten zurück. Heute gehen die Familien komplett, auch mit vielen Kindern.
Über migrierte Menschen und ihre Schicksale, können alle in den Dörfern Geschichten erzählen. Von dem Nachbarkind, das deportiert wurde und wieder und wieder loszog, von dem Jungen, dem ein Arm und ein Bein amputiert wurde, von der Frau, die von den ZETAS gefangen war, von dem Mädchen, dessen Spur sich komplett verloren hat, vor allem aber einfach von den großen Lücken, die im Leben der Familien und der Gemeinschaft entstanden sind. Me hace falta tanto - sie oder er fehlen mir so sehr, - ein Standardsatz. Auch bei Shely Melvina Sanchez. Ihre Tochter war 18 als sie im Februar 2014 mit der Enkeltochter losging, um in den USA Arbeit zu suchen. Sie sei angekommen und seither nur am Heulen, sei todunglücklich in den USA, erzählt Shely. Es ginge ihr so schlecht, dass sie sich im Oktober den Migrationsbehörden stellte. Sie wollte unbedingt wieder zurück. Wurde aber nicht deportiert und hadert jetzt in den USA mit ihrem Schicksal. Und Shely, die Mutter, mit ihrer ursprünglichen Hoffnung, von der Tochter aus den USA finanziell versorgt zu werden.
Der soziale Auflösungsprozess schreitet immer weiter fort. Eine Regierungspolitik, die dem entgegen steuern würde, ist nicht vorhanden. Was nützt es Eltern, die in den USA oder Mexiko eine Arbeit finden konnten, wenn zuhause ihre Familie zerfällt, ihre Kinder sich kriminellen Banden anschließen, wenn sie schutzlos sind. Weil es keine staatliche Instanz gibt, die sich für diese Kinder einsetzen würde. Padre Flor Maria, hat im Laufe seiner Jahre in Tapachula Tausende Geschichten Gestrandeter gehört.
O-Ton Padre Flor Maria Rigoni – Migrantenherberge Tapachula
Ein Jugendlicher mit 14 oder 15 erhält von den Banden die Aufforderung: Du kommst zu uns. In drei Tagen soll er sich entscheiden. Bei Nein, wird er umgebracht. Wir hatten hier eine Zeugin, vor der zwei Menschen enthauptet wurden. Die Warnung an sie: wirst du nicht unsere Geliebte, ist es aus mit dir. Als Jugendlicher gehörst du uns! Heute ist es nicht mehr die Armut, es ist die Gewalt, warum junge Menschen abhauen. Die Armut ist nicht mehr so sichtbar, du bist sie gewohnt, aber wenn der Armut die Würde genommen wird, wirst du zum Tier, das überleben will mit kriegerischer Mentalität. Du akzeptierst Dinge, die du in Friedenszeiten nie akzeptieren würdest.
Im November 2014 veröffentlicht ACNUR, das UNHCR Büro in Mexico, die Broschüre Arrancados de Raiz – die Entwurzelten. Alarmierend darin ist die Aussage: annähernd 49 Prozent der aus El Salvador, Guatemala und Honduras stammenden Kinder sind aufgrund von Gewalterfahrungen oder Angst davor aus ihren Ländern geflüchtet. Diese Kinder müssten unter internationalen Schutz gestellt werden.
O-Ton Padre Flor Maria Rigoni – Migrantenherberge Tapachula
Deswegen kann ich es nicht akzeptieren, dass COMAR heute viel mehr als früher Anträge der Flüchtlinge zurückweist.
COMAR ist die Mexikanische Kommission zur Unterstützung der Flüchtlinge. Verglichen mit dem Abschiebeapparat ist sie kaum sichtbar und laut einer von ACNUR vorliegenden Untersuchung extrem unterfinanziert.
In Panama ist das Regionalbüro des Flüchtlingshochkommissariats für die Mittelamerikanischen Länder. Leiter ist Fernando Protti.
In einem Telefoninterview hebt Protti hervor, dass die mexikanische Regierung vor kurzem eine neue Gesetzesregelung zum Schutz der flüchtenden Kinder verabschiedet habe. Mexikanische Dienststellen sollten sich intensiver darum bemühen, die dringend schutzbedürftigen Personen zu identifizieren. Für diesen Personenkreis müssten klarere Vorgaben für mögliche Antragsstellungen in Mexiko entwickelt werden.
COMAR hält sich sehr verschlossen. Interviews sind Mangelware. Von 1296 im Jahr 2013 gestellten Asylanträgen wurden laut COMAR nur 270 positiv entschieden. Mitte Januar 2015 fordert das Mexikanische Bundesinstitut für Zugang zur öffentlichen Information COMAR auf, die Zahlen der gestellten Asylanträge von Minderjährigen für den Zeitraum von 2002 bis 2014 zu veröffentlichen. Sie kritisieren die bis dato von COMAR veröffentlichten Daten als völlig unzureichend.
Mexiko als Transitland tut sich schwer, mit dieser Situation der angestiegenen Gewalt in den drei mittelamerikanischen Ländern umzugehen. Und der dortigen gewalttätigen Vertreibung. Wer es sich leisten kann, sucht sich dafür einen Schlepper. Einen von Hunderten, die sich tagtäglich anbieten. 8000 Dollar für Erwachsene, 6000 Dollar für Minderjährige. Sie überqueren die Grenzen zwischen Honduras und Guatemala, zwischen Guatemala und Mexiko, begleiten sie bis in die USA.
O-Ton Carlos – der NN - honduranischer Coyote
Geld gibt dir vielfach Macht. Überall hast du Bekannte. Jede Sperre hat ihren Preis. Jeder Polizist hat seinen Preis, sagt dir: Gib mir! 2.000 Dollar bleiben dir, 6.000 Dollar werden verteilt. Unter Polizisten, Beamten egal von welcher Einheit der verschiedenen Polizeistellen, ob von der Justiz oder der Regierung. Da bleibt das Geld. Das Schleusen von Menschen ohne Papiere werden sie nicht stoppen. Dann kommen heute noch die Kartelle dazu. Vor ein paar Jahren waren die noch nicht beteiligt. Heute zahlst du auch Quoten an die Kartelle, um an die Grenze zu kommen. Es ist lukrativer als das Drogengeschäft. Sowohl für die Beamten wie auch für uns Schleuser. Mit 10 Leuten bewegst du 80.000 Dollar. In 10 Tagen. Nicht nur ich. Da sind Tausende Schleuser.
Die Chancen lebend und körperlich oder seelisch unversehrt anzukommen, sind mit Schlepper deutlich höher.
O-Ton Carlos - NN - honduranischer Coyote
Von Honduras aus bereite ich alles vor. Ich kann dir mein Telefon zeigen, all die SMS von den Beamten an der Grenze: „Ich komm morgen vorbei“, „komm am Samstag“, „komm am Sonntag oder Montag“ Es ist ein Netz! Es ist wie ein Kuchen, dessen Stücke verteilt werden und der alle glücklich macht. Du musst durch Guatemala. Du kommst ohne Papiere nach Guatemala. Aber sie wissen schon, dass du dort durchkommst. Sie warten auf ihr Stück vom Kuchen, sie wissen, da kommen ihre 100 Dollar an. Wie sollten sie dich nicht durchlassen? Danach reist du durch Mexiko. Du weißt, du musst durch rund 17 Sperren. An allen 17 Sperren lässt du etwas. Was? Geld natürlich!
Für die Migrant*innen, die mit Schleppern reisen, sind diese Kontrollen kein Problem. Doch die Migrant*innen, die alleine unterwegs sind, die werden dort abgegriffen, verhaftet und sofort in ihre Heimatländer deportiert. Tausende jährlich. Sie sind die überflüssigen im globalen Verwertungssystem - ihre Zahlkraft ist nicht vorhanden, ihre Arbeitskraft wird nirgendwo mehr wirklich gebraucht.
O-Ton Padre Fray Tomás – Albuergue La72 in Tenosique
Die USA benötigt die lateinamerikanischen Migranten als Arbeitskräfte. Ohne diese Menschen wären sie nicht diese Wirtschaftsmacht. Aber ihre Migrationspolitik gilt nur für wenige, nur für die, die gebraucht werden. Auf der anderen Seite benötigen die Ausgangsländer die Geldsendungen dieser Arbeitsmigranten. Es ist ein perverser Kreislauf. Die Heimatländer wollen diese Art der Migration wegen der Geldsendungen. Diese Remesas sind wichtige Säulen der nationalen Wirtschaft dieser Länder.
Padre Fray Tomás erlebt die unmenschlichen Auswirkungen dieses Teufelskreises täglich in seiner Arbeit. Es sind die unbegleiteten Migrant*innen, die zu Bauernopfern werden. In der Herberge von Tenosique weist eine Landkarte der besonderen Art die Migranten auf die Risiken hin. Rote Punkte warnen zum Beispiel vor gefährlichen Regionen, gemalte Pistolen markieren Orte, in denen Überfälle und Entführungen zur Tagesordnung gehören. Dollarscheine markieren die Punkte, an denen die Banden ihren Wegezoll, ihre 100 Dollar einfordern.
Musik: Endstation Irak – Rap von Antonio u.a.
beginnt bereits unter dem vorherigen O-Ton mit: Frag mich nach der Hölle und ich sag dir, das ich da war, irgendwo zwischen Guatemala und Tijuana …. (38.18) bis wird der Zug zu deinen Leben und dein Leben zu deinem Mörder (bei 49,00) läuft danach langsam aus.
Die Unbegleiteten, das sind die Menschen ohne Geld, oft auch ohne Schulbildung. Sie sind es, die durch die Hölle gehen, getrieben von Angst und der Hoffnung auf etwas Besseres. Sie sind es, die Glück haben, wenn sie darüber hinterher noch erzählen können. Menschen wie der 15jährige Franklin Josue aus Honduras, der in der Herberge von Tenosique auf irgendein Wunder wartet, dass ihn nach Monterrey bringen könnte.
Oder Kevin und Samuel aus Sava, Colon. Oder der 16 Jährige Ricardo Elvir. Er ist mittlerweile wieder zurück bei seinen Eltern in Nueva Esperanza in Tegucigalpa.
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre – Honduras
Ich hab mir die „Bestia“ als normalen Zug vorgestellt. Als ich ihn in echt sah, wollte ich umkehren, aber dafür war es zu spät.
Zweimal fiel Ricardo den ZETAS in die Hände
--- - Zug (la Bestia) leise im Hintergrund
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre – Honduras
Beim zweiten Mal warfen sie mich vom Zug. Als der Zug mir das Bein verstümmelte. Das waren meine Begegnungen mit den Zetas.
--- - Zug (la Bestia) leise im Hintergrund
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre –Honduras
Der Zug fuhr los. Vor mir saßen rund 15 Migranten. Ich sah wie von links und rechts jeweils 5 Personen von unten auf den Zug sprangen, dachte das wären auch Migranten. Ich drehte mich kurz um, und als ich wieder nach vorne schaute, sah ich wie sie die anderen Migranten verprügelten. Da wollte ich die Leiter runter, um vom Zug zu springen, aber jemand hielt mich am Hemd fest. Er wollte die 100 Dollar von mir. Ich konnte ihm nicht mal antworten, da hatte er schon zugeschlagen, mit einem Stahlhandschuh ins Gesicht. Als ich das Blut sah, wurde ich wütend. Wir prügelten uns. Dabei konnte ich ihn vom Zug stoßen.
--- - Zug (la Bestia) leise im Hintergrund
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre - Honduras
Da kamen von vorne schon zwei andere. Ich sah immer noch Sternchen, einer der ZETAS zog die Pistole und der andere trat mir gegen die Brust, so dass ich stürzte. Ich versuchte noch, aufrecht zu fallen, aber da war der Zug schon über meinem Bein. Ich sah vor meinen Augen mein Leben an mir vorbei ziehen. Das ist alles, was ich sagen kann.
--- - Zug (la Bestia) leise im Hintergrund
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre – Honduras
Der Zug fuhr weiter und weiter und mindestens vier Räder fuhren über mein Bein. Ich schrie laut, wollte mich doch hinstellen, als ich fiel. Warum gerade ich? Ich hab doch nichts Schlimmes gemacht, warum passiert mir sowas? Mein Traum war aus! Ich heulte und schrie und war wütend auf diese Kerle, die mich runter geschubst haben.
--- - Zug (la Bestia) leise im Hintergrund
Ein Fruchtsaftlieferant entdeckte den halb verbluteten Ricardo neben den Gleisen und brachte ihn auf seinem Lieferwagen ins nächst gelegene Krankenhaus. Er rettete ihm das Leben.
Für die Menschen, die entlang der Bahngleise wohnen, gehört Ricardos Schicksal zum Alltag.
O-Ton Nachbarin 01
Es macht ganz schön traurig zu sehen, wie der Zug diese Körper zerstört. Aber was können wir schon tun? Nichts! Ja.
O-Ton Nachbarin 02
Wenn der Zug Fahrt aufnimmt, klettern sie hoch und dann tötet sie der Zug. Das ist furchtbar. Traurig. Traurig. Du hast noch mit ihnen geredet und dann ist alles aus. Diese armen Jungs. Da wurde einer getötet und dort vorne und hier auch.
Entlang der Bahngleise suchen auch die Mütter der mittelamerikanischen Karawane nach ihren Verschollenen. Mit den Fotos vor sich laufen sie an den Häusern und Hütten vorbei. Und stellen ihre Fragen. Immer die Hoffnung vor sich hertragend – sie könnten dort gesichtet worden sein und es gäbe Hinweise auf ihren jetzigen Aufenthaltsort.
Immer wieder treffen sie an der Strecke auf Migranten. Zwei Jungs sitzen versteckt unter einem Waggon. Sie kommen aus Honduras. Aus El Progreso, unweit von San Pedro Sula.
Sie sind beide 15. Sitzen hier, weil sie auf den Zug warten. Haben keine Ahnung, wo sie wirklich sind und wie weit sie noch müssen, um ans Ziel zu kommen. Zwei fünfzehnjährige irgendwo in Mexiko. Aus der Dunkelheit unter dem Waggon gesellt sich ein älterer Migrant zu den beiden. Den hätten sie unterwegs getroffen. Ob er ihr Schlepper ist, oder einer wie sie, bleibt unklar im Dunkeln unter dem Waggon. Darüber wollen sie nicht reden, wie auch über all die anderen Fragen nicht. All das Reden würde ihnen auch nicht helfen.
Ende November 2014. im mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Mitten im Nichts tauchen langgestreckte, hermetisch abgesicherte und bewachte Mauern auf. Die Eingangstore sind einer Festung gleich bewacht. Das Abschiebegefängnis von Ayacucan. Für die Karawane gehen die Tore auf. Auch die begleitende Presse wird mit zugelassen, allerdings nur in den Vorhof.
Horacio Alcocer, Leiter der Abschiebestation, führt die Mütter durch die Anlage. 540 Migranten sitzen zu der Zeit dort ein und warten zwangsweise auf ihre Abschiebung in die Heimatländer. Die Anlage bietet insgesamt Platz für über 800 Personen.
O-Ton Horacio Alcocer - Direktor INM Abschiebegefängnis von Acayucan
Die Anzahl der Personen ist enorm gestiegen. Darunter sind auch viele Minderjährige oder Frauen, sehr viele Frauen. Die Mehrheit sind immer noch Männer über 18. Die Minderjährigen sind zwischen ein paar Monate bis 17 Jahre alt. Die Kinder bis 12 Jahre werden getrennt untergebracht, hier im Frauentrakt. Die 13 bis 17Jährigen sind im Jugendlichen Trakt, nicht bei den Erwachsenen.
Die Mütter suchen in Registern erst mit Namen und dann mit Geburtsdaten nach Hinweisen auf ihre Angehörigen, denn die meisten legen bereits bei Grenzübertritt ihre Identität ab, weil sich selbst zu sein nur Schwierigkeiten bringen könnte im Dschungel der Menschenjäger. Horacio Alcocer erzählt, dass die Migrant*innen bis maximal 60 Tage in einem solchen Abschiebegefängnis untergebracht bleiben können.
Und dass Kinder oftmals von ihren Schleppern im Stich gelassen würden und dann in Bussen oder wo auch immer bei Kontrollen von Migrationsbeamten aufgegriffen und in die Anlage gebracht würden. Hier müssten sie dann deren Nationalität klären und mithilfe des jeweiligen Konsuls die Familien auffinden, um sie dann in ihre Heimatländer abschieben zu können.
Durch vergitterte Fenster können die Mitglieder der Karawane vom Vorhof aus für einen kurzen Moment mit Kindern im Gefängnistrakt reden. Doch schnell werden die Kinder dann von dort verlegt. Die Öffentlichkeit soll so wenig wie möglich über sie erfahren.
--- - Busfahrt und danach Begrüßung – Klatschen – Freudige Gespräche
La Patrona, Bundesstaat Veracruz. 10 km Entfernung zu Cordoba, 300 zu Mexico City. Sitz der Menschenrechtsorganisation Las Patronas.
Eine weitere Station der Mütter ist das Frauenprojekt Las Patronas. Dort begannen vor knapp 20 Jahren die Frauen einer einfachen Familie, das wenige was sie hatten, mit Migranten zu teilen. Die Töchter kamen vom Brot holen, da fuhr der Zug voller Migranten vorbei. Einige riefen, sie hätten Hunger. Spontan warfen die Mädchen den Migranten das Brot zu und beichteten ihrer Mutter, als sie ohne Brot nach Hause kamen, was sie getan hatten. So begann die Geschichte der Patronas. Einer Familie, die mit dem wenigen, was sie hatten, ein Projekt schufen, das mehrere internationale Menschenrechtspreise für diese Arbeit erhielt. Sie machten es sich zu ihrer Aufgabe, zu jeder Uhrzeit an den Bahngleisen Essen und Wasser an die Migranten auf den vorbeifahrenden Zügen zu verteilen.
Doch während die Karawane unterwegs ist, befördern die Züge keine Migranten. Die Waggons sind menschenleer. Nur ein paar schwer bewaffnete Sicherheitskräfte fahren auf dem Zug mit. Doch diese neuerliche Sicherheitsmaßnahme wird die Migration genau so wenig stoppen wie anderswo das Verlängern von Zäunen, das Hochziehen von Mauern - solange die Ursachen weiter existieren. Sie wird die Menschen nur auf noch gefährlichere Wege verdrängen. Und es werden weiterhin zu Hause in Honduras, in El Salvador, in Guatemala oder Somalia, Sudan oder dem Kongo Mütter, Väter, Ehefrauen oder Geschwister verzweifelt auf Lebenszeichen der Gegangenen warten.
- Dezember 2014. Nueva Esperanza, Tegucigalpa, Honduras. Ricardo Elvir hat sich langsam an seine Prothese gewöhnt. Er arbeitet nun komplett im kleinen Laden der Mutter mit. Hat einen Kleinkredit aufgenommen, um das Angebot zu erweitern. Trotz Prothese schleppt er die Waren zu Fuß den steilen Weg hinunter. Und er träumt wieder, wenn auch von anderen Dingen als vor seinem unseligen Migrationsversuch.
O-Ton Ricardo Elvir 16 Jahre – Colonia Nueva Esperanza Tegucigalpa Honduras
Ich hab versucht, Fußball zu spielen. Ist aber nicht einfach. Normalerweise bewegst du dich mal so, mal so, aber jetzt muss ich auf dem anderen Bein stabil bleiben, um dann mit der Prothese den Ball zu bewegen. Vorher war ich Rechtsfuß, nun muss ich links schießen. Schwierig. Doch ich lerne mit der Prothese umzugehen.
Zwischen 2007 und 2013 hat die Europäische Union laut Amnesty Bericht fast zwei Milliarden Euro für den Bau von Zäunen, hochentwickelten Überwachungssystemen und Grenzkontrollen ausgegeben, um ihre Grenzen abzuschotten.
Die USA versuchen seit 2006 die Einwanderung an der Grenze zu Mexiko einzudämmen.
Dazu zogen sie auf rund 1100 Kilometern eine Zaunbefestigung hoch, ausgerüstet mit Kameras und Bewegungsmeldern und verdoppelten die Zahl der Grenzbeamten. Allein 2012 gaben sie fast 18 Milliarden Dollar für ihre Grenzsicherung aus.
MUSIK – Manu Chao – Desaparecido im Hintergrund
Das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen vermeldet für 2014 mit 46,3 Millionen einen neuen Rekord an geflohenen Menschen, die unter ihrem Mandat betreut werden. Darin sind die sogenannten Armutsflüchtlinge nicht eingeschlossen.
MUSIK – Manu Chao – Desaparecido im Hintergrund
Aktuell laufen Verhandlungen über eine Wiedereröffnung eines ACNUR Büros in Honduras. Zuletzt gab es ACNUR Honduras in den Achtziger Jahren, zu Zeiten der Bürgerkriege in der Region.
MUSIK – Manu Chao – Desaparecido im Hintergrund
2014 sind von Mexiko und den USA knapp 74.000 Menschen nach Honduras deportiert worden.
MUSIK – Manu Chao – Desaparecido im Hintergrund
2013 sind in Deutschland 109.580 Asylanträge gestellt worden.