© Jacob Studnar-Kindernothilfe
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Im Haus „Querubines“ in der Hauptstadt von Honduras finden Mädchen nach Missbrauch und sexualisierter Gewalt endlich Zuflucht und Unterstützung. Eine Reportage über den internationalen Einsatz für Kinderrechte.

Ricardo Coello hat es eilig an diesem Morgen. Der Honduraner ist Sozialarbeiter in Tegucigalpa und arbeitet für CASA ALIANZA, einer internationalen Kinderschutzorganisation, mit Schutzprojekten für Straßenkinder in allen mittelamerikanischen Ländern.

Auch in Honduras im historischen Viertel der Hauptstadt. Doch Ricardo betreut auch noch ein ganz spezielles Projekt eine gute Autostunde vom Zentrum entfernt. Das Heim Querubines, was übersetzt so viel bedeutet wie: die Engelchen am göttlichen Thron. Ein Schutzraum für Mädchen zwischen 12 und 18 Jahren, allesamt Überlebende von sexualisierter Gewalt.

Für die Fahrt dorthin nimmt sich Coello ein Taxi. Eins der billigen Sorte, ohne verdunkelten Scheiben, wie sie Touristen aus Sicherheitsgründen dringlich empfohlen werden. Statt Klimaanlage sind die Scheiben heruntergekurbelt, durch die bei den herrschenden sommerlichen Temperaturen statt erfrischendem, abkühlendem Wind, meist ohrenbetäubender Lärm dringt.
Gut 40 Minuten später öffnet sich dem Taxi eine Schranke, macht den Weg frei in eine dieser vielen Gated Comunities. Es sind bewachte, eingezäunte Wohnblöcke, in denen sich die Menschen durch freiwilliges sich selbst einsperren, mehr Sicherheit vor der überall in Honduras grassierenden Gewalt erhoffen. Ricardo klingelt an einer Gartenpforte ohne Namensschilder. Eine ältere Frau, die Köchin und Seele des Hauses, öffnet und begrüßt ihn herzlich in diesem zum Heim umfunktionierten Wohnhaus. Das Schutzzentrum Querubines. Kaum im Haus eingetreten, wird Ricardo sofort von der 14 jährigen Sara gestoppt. Mit tränenerstickter Stimme erzählt sie, dass am Tag zuvor das geplante Treffen mit ihren Eltern nicht stattgefunden habe. Die Mutter und der Vater seien nicht gekommen. Aber sie müsse die beiden unbedingt sehen, vermisse sie, und bitte, bitte, fleht sie Ricardo an, er solle ihr doch helfen. Sara ist im Heim, weil sie vom Vater mehrfach sexuell missbraucht wurde. Doch es dauere, bis sie sich davon emotional loseisen könne, erklärt Ricardo später dieses widersprüchliche Gefühl der noch ganz frisch ins Schutzzentrum gekommenen Sara. Ihr sagt er zu, möglichst schnell ein neues Treffen zu vereinbaren. Sara lächelt, wischt sich die Tränen ab und in Zeitraffer verwandelt sich das zierliche, verletzte kleine Mädchen in eine cool daherkommende 14 Jährige. So schlendert sie zurück in den Gemeinschaftsraum, in dem noch ein paar wenige andere Mädchen sitzen, die sich an diesem Tag nicht in der Lage fühlten zur Schule zu gehen. Es ist ein schlichter, funktionaler Raum. Ein paar selbst gestaltete Poster hängen an der Wand, eine Handvoll bequeme Sitzflächen und der gemeinsame Fernsehapparat für Alle. Daneben im angrenzenden Raum ein paar Computer mit klaren Nutzungsregeln. Plötzlich wird es hektisch und laut. Vor dem Gartentor hält ein Kleinbus. Rund 20 Mädchen kommen aus der Schule zurück. Kurze Hallos an die Köchin, an Ricardo und die diensthabende Erzieherin Tania. Sie bringen ihre Schulsachen in die Mehrbettzimmer, und finden sich kurz danach alle in der Küche ein. Das Mittagessen ist fertig. Reis, Gemüse, geschnetzeltes Hühnerfleisch mit heller Soße, Tortillas. Sehr geordnet schöpfen sich alle auf und setzen sich dann an die Esstische. Auch Gabriela und Marisol. Sie sind Schwestern und heißen eigentlich anders. Aber zum Schutz aller Mädchen bleiben ihre richtigen Namen der Außenwelt verborgen. Und auch innerhalb des Heimes bleiben die Geschichten der Einzelnen in der Regel vor den anderen verschlossen. Darüber reden sie nicht, auch dann nicht, wenn sie viel mit anderen machen und es nach außen wie dicke Freundinnen aussieht. „Dass jede von uns üble Erfahrungen gemacht hat, wissen wir voneinander“, erzählt Gabriela. Mehr müsse nicht sein. Tania, die Erzieherin, spricht von der großen Angst, die die Mädchen schweigen lässt. Denn es könnte ja durch welchen Zufall auch immer in diesem eigentlich kleinen mittelamerikanischen Land durch unbedachtes Erzählen Spuren zu den Tätern gelegt werden, und damit dann auch wieder zu ihnen.
Marisol und Gabriela kommen aus der bergigen Kaffeeanbauregion im Landesinneren. Sie repräsentieren auf grausame Weise das Leben, das noch heute viele Mädchen in den ländlichen Regionen erleiden. Wo es „normal“ ist, dass Mädchen nicht zur Schule gehen, sondern von klein auf im Haushalt eingespannt sind. So wie Gabriela. Die 15jährige war Analphabetin als sie zu im Herbst 2017 zu Querubines kam. Die Mutter verbot ihr die Schule. „Ich musste Wäsche waschen, bügeln und mit solchen Arbeiten mir mein Essen verdienen“, erzählt sie von dieser Kindheit, die keine war. Das Bett teilte sie sich mit den drei Schwestern. „Wo ich herkomme sind alle sehr arm. Man muss sich um das tägliche Essen kümmern und so Dinge wie Kleider. Da können die Kinder nicht in die Schule. Niemand hat Geld für Hefte oder Stifte.“ Darüber kann Gabriela noch relativ unbefangen reden. Doch was ihr dann in den Sinn kommt, fällt ihr deutlich schwerer zu erzählen und ihre eh schon zarte Stimme wird dünner und ihre Blicke bleiben am Boden haften. Augenkontakt geht gar nicht. „Ich war 11 als mich meine Brüder missbrauchten. Mama half mir nicht. Sie misshandelten und vergewaltigten mich und niemand half mir!“ Es waren alle drei Brüder. Sie bat die Mutter um Hilfe, doch: „Sie glaubte mir nicht und wollte nicht, dass ich ihr das erzähle. Ich würde lügen, sagte sie.“ Jetzt erstmal durchatmen. Das hat sie bereits gelernt. Sie kramt in ihrem umgehängten Beutel, holt ein Heftchen hervor, blättert durch die Seiten und deutet auf das darin geschriebene. „Heute kann ich lesen und schreiben.“ Sie lächelt schüchtern und ihr blickt wieder ausdrucksvoller, vielleicht sogar ein bisschen stolz. Es ist ihr Blick nach vorne.
Die ältere, heute 18jährige Schwester Marisol ist schon 6 Jahre bei Querubines. Sie hat die langen Haare zu einem festen Zopf geflochten, das macht sie älter. Sie war 7, als ihr Vater und der Onkel sie missbrauchten. Und die Mutter beschimpfte auch sie als Lügnerin. „Niemand half mir, alle kehrten mir den Rücken zu.“ Der Onkel, der auch Täter war, nahm sie als 11 Jährige mit ins Haus der Oma. Sie hoffte auf Hilfe, doch die Oma, die Mutter des Onkels, betrachtete Marisol als dessen Frau, als dessen Eigentum. Kurioserweise verdankt sie dem Vater die Rettung von dort. Er raste vor Eifersucht und zeigte den Onkel an, brachte damit den Stein ins Rollen. Marisol kam in die Obhut der Kinder- und Jugendschutzbehörde und von dort zu Casa Alianza und in deren Heim Querubines. Bald danach brachte dieses Mädchen trotz vieler Ängste den Mut auf und zeigte den Vater an. Damit stellte sie sich innerhalb der Familie komplett ins Abseits. Die Brüder und die Mutter meiden sie. „Sie sagen, ich sei schuld, dass sie alles verloren haben. Ich hätte die Familie kaputt gemacht. Wegen mir müssten sie schwer arbeiten und würden schlecht leben. Hätte ich nichts gesagt, besäßen sie noch alles.“
Geschichten wie die von Marisol und Gabriela werden in den ländlichen Regionen des Landes über Generationen hinweg fortgeschrieben. Sie gelten als „normal“, als „so ist es eben das Leben der Mädchen“. Mädchen, die das Pech hatten als 12 jährige geschwängert zu werden, seien dann später die Aussätzigen des Dorfes, von den Müttern aus dem Haus geworfen, weil sie sich auf Männer eingelassen hätten, beschreibt Gabriela, was sie in ihrem Dorf erlebt hat. Niemand wolle dort mit solchen Mädchen zu tun haben, da sie nichts wert seien. Die Zahlen solcher ungewollten Schwangerschaften nehmen zu. Letzte Statistiken besagen, dass bei 15 Prozent der Geburten die Mütter zwischen 14 und 18 Jahre alt sind.
Sexueller Missbrauch, Misshandlungen und überhaupt jede mögliche Gewaltanwendung gegen Mädchen haben Gabriela und Marisol in ihrer Umgebung viel erlebt. Auch die Versprechungen von Traumjobs fernab von zu Hause, angeboten durch vermeintliche Arbeitsvermittler, oft aus der Nachbarschaft oder der eigenen Familie, sind Teil von extremen Formen von Gewalterfahrungen. Statt als Haushaltshilfe oder Serviermädchen in irgendeinem Café oder Restaurant, landet ein Großteil der meist minderjährigen Mädchen als Sexsklavinnen in billigen Bars oder Hotels oder werden auf den völlig ungesicherten Straßenstrich geschickt, egal ob in Honduras selbst oder einem der Nachbarländer.
Die wenigsten der Mädchen haben Glück und werden von der Jugendfürsorge aus diesem Umfeld herausgeholt oder können fliehen. Und wenn doch, dann sind die Schutzräume knapp. Gerade deswegen ist die Einrichtung Querubines so wichtig für die Betroffenen. Dort erhalten im Durchschnitt rund 100 Mädchen jährlich neben sozialer und therapeutischer Unterstützung auch einfache Lebenshilfen angeboten. Und sie können zur Schule gehen, ein Recht, das laut Verfassung jedem Kind zusteht. Marisol und Gabriela wollen beide Anwältinnen werden, spezialisiert auf Kinder- und Jugendrecht. Ihr Blick nach vorne ist sehr konkret, sehr klar, hat sich geformt durch die erfahrene Unterstützung bei Querubines. Dort haben sie vor allem auch gelernt: sie haben Rechte! Alle Kinder weltweit, und damit auch in ihrem Heimatland Honduras, egal ob sie in den Städten oder den ländlichen Regionen leben, haben Rechte, die es zu schützen gilt.
Kinderrechtsorganisationen wie Casa Alianza können Projekte wie Querubines in Honduras nur mit kontinuierlicher Fremdfinanzierung durchführen. Dafür brauchen sie internationale Partnerorganisationen, wie zum Beispiel die Österreichische Kindernothilfe. Von der Wiener Dorotheergasse aus unterstützt diese NGO seit 2012 den Schutzraum Querubines mit regelmäßigen Spenden, und leistet damit Überlebenshilfe für diese Einrichtung. Eine Allianz, die international für die Wahrung der Kinderrechte eintritt und in diesem konkreten Beispiel dafür sorgt, dass die oftmals zutiefst traumatisierten Mädchen in diesem Schutzraum notwendige therapeutische Hilfe erhalten. Und irgendwann in nächster Zukunft wollen auch Gabriela und Marisol für diese Rechte kämpfen.

(Der Text wurde in gekürzter Form in er zeitschrift DIE FURCHE - 6./7. Februar 2019 veröffentlicht)