Tag der Verschwundenen in Mexico © Erika Harzer
Tag der Verschwundenen in Mexico © Erika Harzer

Veröffentlicht auf Zeit-Online unter der Rubrik 10 nach 8 am 29.August 2022

Jedes Jahr verschwinden auf der Welt zahlreiche Menschen durch kriminelle Banden und korrupte Polizei. Hinterbliebenen bleiben oft nur Angst, Trauer und Unverständnis.

Von Erika Harzer (Gastautorin von ZEIT ONLINE 10 nach 8)

Wie jedes Jahr seit nunmehr elf Jahren werden Medien auch dieses Jahr am 30. August über gewaltsam verschwundene Menschen berichten. Sie werden Zahlen nennen und daran erinnern, dass die UN-Generalversammlung 2011 diesen Tag zum Internationalen Tag der Verschwundenen erklärte, weil noch immer und immer wieder Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise für immer verschwinden.

Mal werden die Menschen von der Straße weg entführt oder während einer Demonstration, mal werden sie von zu Hause verschleppt oder an ihrem Arbeitsplatz festgenommen. Was danach mit ihnen passiert, kann nur erahnt werden. Vielleicht werden sie misshandelt, gefoltert, vielleicht verhört, zu Tode gequält, umgebracht und irgendwo im Nirgends "entsorgt", in Säure aufgelöst, ins Meer oder Seen versenkt, in abgelegenen Flächen verscharrt, vergraben. Keine Angaben über ihren Verbleib.

Die Angehörigen hatten nicht einmal die Chance, sich von ihren Liebsten zu verabschieden. Sie bewegen sich im Wechselspiel von Angst und Hoffnung, rastlos auf der Suche nach Informationen, die irgendein Detail zum Verbleib ihrer Angehörigen geben könnten, oder paralysiert.

Gewaltsames Verschwindenlassen von Personen – la desaparición forzada – war eine gängige Praxis der lateinamerikanischen Militärdiktaturen. Mit dieser Praxis "entsorgten" die Militärs Gegner oder politisch Andersdenkende, verbreiteten Angst und Terror. Von 1966 bis 1986 sind ungefähr 90.000 Menschen gewaltsam verschwunden. Angehörigen und Überlebenden gelang es, eine breite, internationale Öffentlichkeit über diese Verbrechen zu informieren. 1978 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, die gewaltsames Verschwindenlassen als spezifisches Verbrechen und als universales Problem benannte. Eine 1980 gegründete Arbeitsgruppe der UN-Menschenrechtskommission untersuchte, wie gewaltsames Verschwindenlassen völkerrechtlich geahndet werden könnte. Dieser Working Group on Enforced or Involuntary Disappearances (WGEID) wurden in den ersten 30 Jahren seit ihrer Gründung rund 50.000 Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens aus über 80 Ländern angezeigt.

2002 wurde Verschwindenlassen vom Internationalen Gerichtshof als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Im Dezember 2006 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Konvention gegen das Verschwindenlassen, die explizit betont, dass auf die "Freiheitsberaubung durch Bedienstete des Staates oder durch Personen oder Personengruppen, die mit Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln" regelmäßig entweder die Weigerung folgt, diese Freiheitsberaubung anzuerkennen oder Verbleib und Schicksal aktiv verschleiert werden, wodurch die verschwundene Person "dem Schutz des Gesetzes entzogen wird".

Im Dezember 2010 war die Konvention von 20 Staaten ratifiziert worden und somit – eingeschränkt auf diese Mitgliedsstaaten – rechtsgültig. Anfang 2022 hatten 98 Staaten den Vertrag unterzeichnet, 67 davon auch ratifiziert. Für Barbara Lochbihler, seit 2019 Mitglied im UN-Ausschuss gegen das gewaltsame Verschwindenlassen, eine inakzeptabel geringe Anzahl: "Nur rund ein Drittel der afrikanischen und die Hälfte der europäischen Staaten haben die Konvention ratifiziert."

Es ist schwierig, genau anzugeben, wie viele Menschen im Sinne dieser Definition weltweit gewaltsam verschwunden sind. Gesichert scheint, dass sich die Zahl der Verschwundenen seit dem Ende der Militärdiktaturen mehr als verdoppelt hat. Allein in Mexiko wird Anfang 2022 von über 100.000 seit Beginn der Zählung und in Kolumbien von über 80.000 Menschen gesprochen. Länder, die in diesem Kontext immer wieder auftauchen, sind: Mexiko, Kolumbien, Syrien, Irak und Jemen.

Bei jeder Person, die als verschwunden in die Statistik aufgenommen wird, gibt es betroffene Angehörige. Mit einigen von ihnen habe ich im Laufe der vergangenen Jahre Interviews geführt. Sie haben mir ihre Geschichten erzählt. Wie sie suchen, wieder und wieder. Wie sie von einer Institution zur nächsten geschickt werden, ohne auch nur eine klitzekleine konkrete Information zu bekommen. Wie sie von denjenigen, deren Arbeitsauftrag es eigentlich ist, sich um sie zu kümmern, angelogen, vertröstet, nicht ernst genommen und mit ihrer Trauer im Stich gelassen werden. Wie sie trotzdem weitermachen und die Fotos ihrer Liebsten mit ihren einfachen Suchangaben dazu in die Welt schicken. Wie sie zu Kämpfer*innen für Menschenrechte werden – und manchmal kleine Teilerfolge erringen.

Das zeigt der Fall der 43 verschwundenen Lehramtsstudenten von Ayotzinapa in Mexiko, die im September 2014 mit Bussen zu einer Demonstration nach Mexico City wollten. In der Stadt Iguala wurden sie von Polizisten gestoppt, die sie dann der Mafiagruppe Guerreros Unidos (deutsch: "Vereinte Kämpfer") übergaben. Seither sind sie verschwunden. Anfangs wurde den Angehörigen gesagt, die Verschwundenen lägen zerstückelt in Massengräbern. Vier Monate nach der Tat verkündete der damalige Generalstaatsanwalt die angebliche "historische" Wahrheit, dass sie auf einer Müllhalde verbrannt worden seien – was sich später allerdings als Falschaussage herausstellen wird.

Vielerorts sind staatliche Sicherheitskräfte involviert

Die Auswirkungen dieses Verbrechens treffen nicht nur die Familien und die Verschwundenen selbst, sondern auch die Überlebenden. Einen von ihnen, der sich aus Angst vor Verfolgung in den Jahren nach der Tat Omar García nennt, traf ich 2016 das erste Mal. Er wirkte sehr nachdenklich und in sich gekehrt. Von den Angehörigen spüre er manchmal die Frage: "Warum hast du überlebt und mein Sohn nicht?" Eine Last, die er zu tragen habe. "Du selbst fragst dich ja auch ständig: Warum ich? Warum ist es meinem Freund passiert und mir nicht? Die Schuld, überlebt zu haben, quält dich." Oft wisse er nicht wohin mit seinem Schmerz. Und wohin mit seiner Wut. "Du lässt deine Wut an der erstbesten Person aus. Ich leide darunter in meinen persönlichen Beziehungen, zu meinen Freunden oder meiner Verlobten. Plötzlich explodiere ich oder bin furchtbar traurig, fühle mich mies wegen meinem Jähzorn."

Jahre später traf ich Omar in Mexico City wieder. Er war mit den Angehörigen angereist. Die Poster mit den Fotos und den Namen der Verschwundenen in den Händen skandierten sie: "Lebend habt ihr sie uns genommen – lebend wollen wir sie wieder." Sie fordern die Aufklärung dieses Verbrechens, in das, wie sich später herausstellen wird, die Sicherheitskräfte involviert waren, sie fordern strafrechtliche Verfolgung der Täter und Gerechtigkeit. Bis heute – knapp acht Jahre später – konnten sie sich nicht von den Verschwundenen verabschieden. Omar geht mittlerweile seinen eigenen Weg. Er ist seit 2021 – nun unter seinem richtigen Namen Manuel Vázquez Arellano – Abgeordneter der Regierungspartei Morena und mache sich nun als Politiker für Aufklärung und die strafrechtliche Verfolgung von gewaltsamen Verschwindenlassen stark, so schreibt er mir 2022 per WhatsApp. Einige der Angehörigen hätten jedoch wegen seiner jetzigen Nähe zur Regierung den Kontakt zu ihm abgebrochen.

Einen Teilerfolg haben die Angehörigen vor wenigen Tagen errungen: Am 18. August bezeichnete die von Präsident López Obrador eingesetzte Wahrheitskommission das Verschwinden der 43 Studenten als Staatsverbrechen, für das das Militär und andere staatliche Institutionen Mitverantwortung tragen. Man könne davon ausgehen, dass von den Verschwundenen keiner mehr am Leben sei.

Seit dem 19. August sitzt der ehemalige mexikanische Generalbundesanwalt, der mit seiner "historischen Wahrheit" die Ermittlungen abschließen wollte, in Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis. Am selben Tag wurden weitere 83 Haftbefehle ausgestellt, gegen Militärkommandeure, gegen Soldaten, gegen lokale und staatliche Polizeieinheiten sowie gegen Mitarbeiter von Verwaltungs- und Justizbehörden und natürlich auch gegen Mitglieder der kriminellen Vereinigung Guerreros Unidos.

Ebenfalls in Mexiko traf ich im Frühjahr 2018 auf Luz Maria Durán, eine schüchtern wirkende Frau, die ihre Suche und ihren Kampf für Gerechtigkeit dennoch sehr entschlossen vorantreibt. In ihrer Gärtnerei am Rande der Industriestadt Monterrey hat sie für uns, eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten, jede Menge Zeitungsausschnitte und ein Poster auf einem einfachen Holztisch ausgelegt. "Wo ist er?" steht darauf geschrieben. Darunter ein Foto, in dem auf ihren beiden Händen das Foto ihres Sohnes liegt: "Israel Arenas Durán. Verschwunden am 11. Juni 2011". An diesem Tag haben staatliche Sicherheitskräfte ihren Sohn zusammen mit drei Freunden und Arbeitskollegen gewaltsam verschwinden lassen. Sie hatten ein Feierabendbier in einer Bar getrunken, aber nicht genug Geld dabei. Deshalb rief die Wirtin die Zetas (deutsch: die Zs) an, ein Drogenkartell, zu dessen Geschäften Schutzgeldforderungen, Prostitution, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel gehören. Ihr Markenzeichen: die brutale Verstümmelung ihrer Opfer.

Die Zetas seien eng verwoben mit den lokalen Polizeikräften, erzählt Luz Maria Durán. In ihren Recherchen habe sie erfahren, dass es zwar Polizisten gewesen seien, die die vier jungen Männer abholten, aber eben solche, die mit den Zetas zusammenarbeiten. Sie hätten dann die vier Männer den Zetas übergeben. Wegen einer Runde Bier! Wegen umgerechnet rund acht Euro.

Diese Geschichte hat Luz Maria seit 2011 vielfach erzählt und doch bricht ihr auch bei unserem Treffen immer wieder die Stimme. Vor allem als sie uns den Zeitungsartikel zeigt, in dem geschrieben steht, dass ihr Sohn und die drei anderen vermutlich in Säure aufgelöst worden seien. Uns allen stockte der Atem, erinnere ich mich, als uns diese kleine, mutige Frau davon erzählte. Das Schlimme daran ist, dass es tatsächlich stimmen könnte. In Säure auflösen gehört zu den Methoden des Verschwindenlassens und wurde vielfach praktiziert. Viele mexikanische Bundesstaaten haben sich in hochgefährliche Regionen verwandelt, durch diese staatszersetzenden Verbrechen, in denen vielerorts staatliche Sicherheitskräfte involviert sind.

Der Kommissar auf dem Polizeirevier habe sie aufgefordert, mit ihrer Unterschrift zu akzeptieren, dass sie in Säure aufgelöst wurden. Ohne Beweise unterschreibe sie das nicht, habe sie ihm geantwortet.

Für die Angehörigen bleiben Ungewissheit und Angst

Was Luz Maria und all die anderen Mütter und Väter, die Ehefrauen und Kinder von Verschwundenen in diesem Land quält, ist auch dieser Umgang der Behörden mit ihnen. Sie werden nicht ernst genommen, werden vom einen zum anderen geschickt, erhalten falsche Auskünfte oder werden angelogen. Sie begegnen in den Ämtern gleichgültigen, zynischen Menschen, die ihnen eigentlich aufgrund ihres Arbeitsauftrages helfen müssten. Doch um sie und den Suchauftrag loszuwerden, werde ihnen gegenüber einfach behauptet, dieses oder jenes gefundene Skelett sei ihr verschwundener Angehöriger. Hartnäckig forderte Luz Maria immer wieder DNA-Proben. Dadurch, so erzählt sie es, sei herausgekommen, dass ihr einmal Tierknochen präsentiert wurden.

Luz Maria schloss sich einer Suchgruppe innerhalb der Menschenrechtsorganisation CADHAC an. Nicht zuletzt deren Einsatz ist es zu verdanken, dass einer der beteiligten Polizisten im August 2013 zu 60 Jahren und die Wirtin, die die Zetas angerufen hatte, zu 45 Jahren Haft verurteilt wurden. Auch dies ein Teilerfolg. Doch auch elf Jahre später fehlt von Israel Arenas Durán und den drei anderen jede Spur.

Noch ein Ortswechsel, dieses Mal nach Triunfo de la Cruz in Honduras: Am frühen Morgen des 18. Juli 2020 drangen mehr als zehn vermummte und schwer bewaffnete Männer in Polizeiuniformen mit Jeeps und Motorrädern in das kleine honduranische Küstendorf Triunfo de la Cruz und verschleppten von dort vier Männer, Angehörige der ethnischen Gruppe der Garifunas: Snider Centeno, Präsident des Patronats, der Gemeindeverwaltung, die beiden Angehörigen des Landverteidigungskomitees Milton Martínez und Suami Álvarez, und Gerardo Trochez. Nachbarn riefen den polizeilichen Notruf an, doch aus der rund zwölf Kilometer entfernten Polizeistation kam keine Streife zur Hilfe.

Für die Angehörigen bleiben Ungewissheit und Angst. Und Wut auf das, was passiert ist. Just an diesem Morgen funktionierten die zur Sicherheit der Gemeinde angebrachten Überwachungskameras nicht. Es herrschte aufgrund der Pandemie strikte Ausgangssperre, und jeder, der nicht legitimiert war, unterwegs zu sein, wurde in Straßensperren sofort angehalten. Nur das Überfallkommando nicht. Die Polizei spricht später von als Polizisten verkleidete Kriminelle. Doch dem widersprechen die Bewohner des Ortes. "Es waren kriminelle Polizisten", vermutet Pablo Centeno Pitío, Vater des entführten Snider Ceteno kurz nach dem Verbrechen im Telefoninterview.

Immer wieder sind es Angehörige von Garifuna-Gemeinden, die gewaltsam verschwinden, wenn sie ihr Gemeindeland verteidigen oder zurückfordern. Mal geht es um geplante Tourismusprojekte, mal um Monokulturen der Ölpalme, mal um die Förderung von Bodenschätzen. Immer wieder verschwinden Gemeindemitglieder oder werden ermordet.

In diesem Fall sind die bisherigen Versuche, Aufklärung zu erzwingen, erfolglos: Sowohl das honduranische Büro des UNHCR als auch das mittelamerikanische Büro von Amnesty International haben die honduranische Regierung aufgefordert, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die vier gewaltsam verschwundenen Personen ausfindig zu machen, doch von den Männern fehlt bis heute jede Spur.

Verschwindenlassen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und doch ist es auch im Jahr 2022 nach wie vor eine angewandte Praxis in vielen Ländern dieser Welt. Beteiligt daran sind immer wieder staatliche Sicherheitskräfte, entweder als Täter, um ihre korrupten Praktiken zu sichern, oder indem sie die Täter schützen. Eine Strafverfolgung findet kaum statt und wenn überhaupt nur dann, wenn es gelingt, die Fälle öffentlich als das zu benennen, was sie sind: Verbrechen gegen die Menschlichkeit!

Deshalb ist es so wichtig, die Angehörigen zu hören und ernst zu nehmen. Es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft Aufklärung der Verbrechen und Strafverfolgung fordert. Und es kann und darf nicht sein, dass dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur einmal im Jahr, am 30. August, thematisiert und als solches wahrgenommen wird. Menschen verschwinden täglich!